Vergangenheit


Ich bin in einem winzigen Dorf, mitten im Nirgendwo aufgewachsen.
Hier gab es nichts, keine Kinder zum spielen (es gab ein paar Kinder, aber die wollten nicht mit mir spielen), nicht mal Busverbindungen.
Mein Vater war der erste Ausländer hier im Ort.
Meine Mutter, die jetzt seit 17 Jahren hier wohnt, ist immer noch "neu zugezogen". Ich musste hier sitzen bis ich 18 wurde.

Der Horror begann in der 5. Klasse. In der Grundschule war ich auch einsam gewesen, ja klar. Aber ich wurde nicht gemobbt. In der Grundschule hatte ich auch keinen Anschluss gefunden, oder Freunde gehabt. Ich war nie auf Geburtstagspartys und so eingeladen. Erst sehr viel später habe ich verstanden, dass das viel mit Rassismus zu tun hatte. Mein Vater war Portugiese, der Vater meiner Mutter kam aus Israel und war Jude, munkelte man.
Ich weiß auch noch, dass ein Junge in meiner Klasse sich oft Hakenkreuze auf die Hände malte. Ich habe ihn gefragt, was das sei. Er sagte, er mache das, weil sein Vater und sein großer Bruder das auch immer machen würden. Er hat daraufhin der ganzen Klasse Hakenkreuze auf die Hände gemalt. Auch mir, natürlich wollte ich auch eins.
Zu  Hause hat meine Mutter dann die Hakenkreuze auf meinen Händen und Oberarmen gesehen, ich habe dafür eine Ohrfeige kassiert und mir wurde gesagt, dass ich dieses Zeichen nie wieder in unser Haus bringen sollte. Ein paar Jahre später war ich dann alt genug um zu verstehen was los war.

Die Rassistischen Vorfälle häuften sich dann als ich in die 5. Klasse kam. Ich war anders, außer mir gab es noch eine etwas "dunklere" Person, Tim, er war Marokkaner, aber adoptiert worden. Er und der Rest der Klasse kannten sich, er hatte Freunde, war beliebt. Ich nicht. Ich blieb der Außenseiter. In meiner Klasse begann das Mobbing sehr langsam, Schritt für Schritt. Ich war intelligenter als die anderen, moppelig, komisch angezogen.
Anfangs waren es nur blöde Sprüche, hier und da, die mich verletzten. Aber bald verschärfte sich die Situation und ich bekam immer einen Schlag ab wenn jemand an meiner Bank hinter mir vorbei ging.
Lehrer ignorierten das vollkommen. Ich hörte auch auf Hausaufgaben zu machen.
Für 3 mal vergessene Hausaufgaben gab es immer eine 6.
Es hagelte 6er, die Lehrer fragten nach bei meinen Eltern und vermuteten, dass meine Mutter nicht genug Geld hatte um meine Schulmaterialen zu bezahlen.
Das war nicht der Fall.
Zusätzlich kamen auch noch Schikanen im Bus nach Hause dazu. Und das war schlimmer. Im Bus wurde ich hemmungslos von älteren Jungen verprügelt, angespuckt. Meine Sachen wurden mir geklaut und zerstört, ich ging jeden Tag heulend nach Hause. Ich hatte solche Angst zur Schule zu gehen, dass ich nicht mehr aufstand. Ich habe einfach so getan als würde ich schlafen und meine Mutter musste mich wecken. Ich habe einfach so getan als wäre ich tot. Ich habe mir gewünscht ich wäre tot.
Jeder Tag war die Hölle auf Erden, morgens die Angst vor dem Schulweg und der Schule an sich, denn zuerst würde ich verprügelt werden, dann würde ich keine Hausaufgaben haben und 6en Kassieren, und dann auf dem Nachhauseweg würde ich nochmal richtig was ab bekommen.
Der Busfahrer ignorierte mich. Ich bin oft nach vorne gelaufen und ihn angebettelt was zu tun. Der Busfahrer hat einfach nicht reagiert. Ich war 13, 14 Jahre alt. Und wurde von 17 Jährigen verprügelt.
Die Lehrer kamen langsam dahinter, was da so ablief, aber wirklich was getan wurde auch nicht.
Ich war allerdings auch nicht mehr so einsam. Ich hatte zwei Freundinnen gefunden, die aber auf eine andere Schule gingen, aber bei mir im Ort wohnten.
Manchmal fuhren sie bei mir im Bus mit. Dann ging es so richtig los. Die eine hieß Judith, und kam aus Rumänien.
"Judith du dreckiger Jude."
"Judith Jude, Judith Jude."
"Wir sollten sie töten, so hat man das früher gemacht."
Das ging so weiter bis die schlimmsten der Tyrannen endlich die Schule verließen. Der eine ist jetzt Polizist geworden, der andere Metzger und der letzte Bauer.
Manchmal sehe ich sie durch Zufall wenn ich meine Eltern besuche und jedes mal fühle ich mich so als wäre ich wieder in der 6. Klasse und hilflos.
Meine Mitschüler haben immer gesagt meine Mutter wäre eine Hure, weil sie einen Transporter als Auto hatte, und nur Nutten haben große Autos. Deswegen habe ich mich nicht mehr getraut bei meiner Mutter im Auto mit zu fahren, aus Angst einen meiner Klassenkameraden irgendwo zu sehen.
Das war auch die Zeit in der meine Essstörung so richtig gestallt annahm. Da ich mir sagte, dass die anderen Kinder mich nicht mögen würden, weil ich nicht gertenschlank war. Außerdem der ständige Druck meiner Mutter, die so mit ihren eigenen Problemen beschäftigt war, dass sie absolut keinen blassen Schimmer hatte, was sie mir auch antat.
Ich erinnere mich an Sprüche wie "So wie du aussiehst hast du dich mittlerweile komplett aufgegeben, oder?" als ich zum ersten mal mehr als 70kg gewogen habe.
"Bist du sicher, dass du das essen willst?"
"Du könntest so schön sein wenn du dünner wärst. Ganz viele würden dich um dein Aussehen beneiden."
Naja hinzu kommt noch mein absolut kranker Vater, der meine kleinen Geschwister, mich und meine Mutter fast täglich verprügelt hat, ein drogenproblem hatte, und uns Jahrelang gedroht hat uns umzubringen. Tatsache ist, dass mein Vater mich schon als säugling extrem gehasst und misshandelt hat. Meine arme Mutter ist als vollwaise aufgewachsen, weil ihre Eltern sich in einem Doppelselbstmord das Leben genommen haben als sie 13 war. Sie weiß glaube ich nicht wirklich was eine normale Interaktion zwischen Kindern und Eltern ist, ich wurde in meiner gesammten Kindheit glaube ich kein einziges Mal in den Arm genommen. Zumindest kann ich mich nicht dran erinnern. Ich fand es früher schon komisch, wenn Eltern ihre Kinder angefasst haben... einen Kuss zum Abschied oder eine Umarmung.
Und die traurige Wahrheit ist, dass man mit niedrigerem Gewicht eben auch akzeptiert wird. Je leichter ich wurde, je weniger von mir da war, desto weniger wurde ich gepeinigt. Und auch wenn ich in der Schule verprügelt wurde, ist wenigstens eine Sache immer gut gelaufen.
Ab meinem 10. Lebensjahr ging es so schnell abwärts. Ich habe als ich 13 war angefangen im Internet aktiv zu sein, damals gab es diese riesige "Pro Ana" Welle, und ich war voll dabei.
Ich hatte einen Blog, war in vielen Foren aktiv, die immer wieder geschlossen worden.
Natürlich bin ich jetzt 21 und ein reflektiert denkender Erwachsener, aber in einer gewissen Weise haben mich die Foren damals gerettet und aus der Dunkelheit geholt. Ich hatte viele Freunde, mit denen ich mich gerne ausgetauscht habe. Ich hatte jemanden zum reden. Es ging sehr vielen Mädchen wie mir. Ich war nicht alleine. Das war ein schönes Gefühl.
Und es hat mir auch geholfen. Denn nach dem Schulwechsel auf das Gymnasium ging es mir richtig gut. Ich aß viel, hatte Übergewicht, aber das war ok. Ich war glücklicher damit, ich wollte nicht wieder hungern. Es gab immer mal wieder Phasen und ich habe immer mal wieder schnell viel Gewicht verloren und wieder zugenommen, aber das war egal.Natürlich hatte ich kein natürliches Essverhalten. Ich war da aber ja auch schon 6 Jahre lang Essgestört.
Ich habe in der Zeit z.B. immer nur Abends gegessen. Bin morgens ohne Frühstück zur Schule und bin dann nach der Schule zum Sport bis 19 Uhr und habe mir danach zu Hause den Bauch voll gehauen.
Aber ich habe nicht mehr Wochenlang gefastet. Ich machte mein Gewicht nicht mehr für alles verantwortlich was schief lief. Rückblickend würde ich ironischer Weise sagen, dass ich glücklicher gewesen wäre, hätte ich gehungert und wäre schlanker gewesen.
Nach meinem Abitur ging ich als Au Pair nach Dublin. Und dort war es auch wieder die Einsamkeit die mich langsam aber sicher wieder in die Essstörung trieb. Ich fing an nur noch jeden zweiten Tag zu essen. War unglaublich unglücklich.
Als ich nach London zog änderte sich das.
Dann habe ich allerdings meinen ersten Freund kennen gelernt, der mein Leben vollkommen zerstört hat. Ich habe in der Zeit angefangen Drogen zu nehmen und wurde von meinem Freund auf emotionalem aber auch physischem Level missbraucht. Da habe ich auch sehr wenig gewogen, etwa 49 kg. Aber das lag eher an dem Drogenkosum. Ich habe da nicht mehr wirklich absichtlich abgenommen, obwohl ich zugeben muss dass der Gedanke daran, dass ich durch so Zeug abnehme, mir gefallen hat.

Wenn ich zurück schaue, auf meine Kindheit und Jugend, dann fühlt sich das an, als wäre es einem anderen Menschen passiert. Ich habe auch super viele alte Tagebücher. Ich werde wenn mein Kram in Berlin ist, mal Passagen daraus veröffentlichen. Da sind strichlisten mit 0-Tagen, die ich gemacht habe. Collagen aus Modezeitungen. Einträge, in denen ich meinen Selbsthass bekunde, weil ich 400 kcal zu mir genommen habe.
Warum wirkt das alles so fremd? Ich will diesen Teil von mir nicht vergessen.

Im Endeffekt... wird die Essstörung immer etwas sein, was dort ist. Manchmal schreibe ich für ein halbes Jahr nicht. Aber sie kommt wieder. Auch wenn ich oft selbst nicht dran glaube. Früher oder später kommt sie wieder.

5 Kommentare:

  1. Das was dir in deiner Kindheit angetan wurde, ist einfach grausam. Ich kann sowas einfach nicht glauben. Wie können Menschen nur so ignorant und kalt sein?! Ich Fass es nicht. Und wenn ich deine Geschichte so lese, dann kann ich nur den Kopf schütteln und werde furchtbar wütend.
    Du hast wirklich viel erlebt und da ist es kein Wunder, dass du dich in einer esstörung verlierst, um wenigstens ein bisschen halt zu finden. Ich schicke dir ganz viel Kraft und Pass Bitte auf dich auf!!!
    Vanille ♡

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  2. Mich berührt das alles gerade so und ich kann so vieles davon nachempfinden. Vor allem was das Mobbing und den Rassismus betrifft.
    Menschen können so grausam sein, es ist erschreckend zu was sie in der Lage sind.
    Aber ich bin froh deinen Blog gefunden zu haben, du hast eine neue Leserin.


    Komm gut durch die Nacht.

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  3. Ich bin unglaublich bewegt, von dem was du in deiner Kindheit durchmachen musstest. Mich selbst verletzen die oft "lustig gemeinten" Sprüche über mein Übergewicht oder meine Hautfarbe unglaublich. Aber letztendlich komme ich damit klar, weil 99% der Leute von denen soetwas kommt es eigentlich nicht böse meinen. Allerdings haben viele noch nicht verstanden, dass anders aussehen und nicht so zu sein wie alle etwas besonderes ist.
    Ich wünsche dir, dass du stark bleibst egal was auf dich zukommt!

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  4. Wahnsinn, wie offen Du über Deine Kindheit reden kannst!

    Ich finde Deinen Blog wunderbar!!

    Bleib stark :)

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  5. Wahnsinn, wie offen Du über Deine Kindheit reden kannst!

    Ich finde Deinen Blog wunderbar!!

    Bleib stark :)

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